ERINNERUNGEN AN PETER SCHERMULY

Beate Richter-Starke, Wiesbaden 1983

Ich kenne Peter Schermuly schon sehr lange, viel länger als die meisten, die ihm näher stehen. Unsere Freundschaft bewegte sich stets in einer Art verbindlicher Distanz; so haben wir uns auch nie entzweit und nie aus den Augen verloren.

Dennoch war mein erster wesentlicher Eindruck ein akustischer. Er pfiff — indem er auf das Haus zuging, in dem ich wohnte — eine Stelle aus dem berühmten Menuett von Boccherini. Er pfiff die ganze Phrase, und zwar mit großer musikalischer Vollkommenheit in Rhythmus und Pointierung.

Dann trat er ein: jung, groß, blond, helles Gesicht, weiche Konturen. Es war noch eine ausländische Verwandte mitgekommen, die eines Tages — wie ich mich erinnere — ein Geschenk sehr schön einwickelte. Später war von Malerei die Rede. Peter sprach eindrucksvoll von Farben, deren Aufgaben im Bild, deren Behandlung beim Malen, Firnissen usw. Er machte dabei mit seinen Händen Bewegungen, als wenn er zarte Gewürze über edle Speisen streuen würde.

Nach dem Pfeifen war also die Art des Sprechens für mich ein besonderes Merkmal dieser Persönlichkeit. Übrigens habe ich Peter nie wieder pfeifen hören, doch oft sprechen. Peter Schermuly sprach und formulierte die unwahrscheinlichsten Dinge mit solcher Eindringlichkeit, daß ich sie sofort glaubte, auch wenn ich sie besser zu wissen meinte. Alle anderen glaubten es auch. Übrigens war (und ist) Peter selbst gläubig. Ich entsinne mich an ein Ostergespräch, in welchem ich verkündete, daß bräunliche Eier besser schmeckten als rein weiße. Da empörte sich einer der Gäste, der allerdings zum ersten (und einzigen) Mal in meiner Umwelt war. Er sagte streng, es sei unmöglich, daß die natürliche Farbschattierung auf den Geschmack des Eies Einfluß haben könne. Peter Schermuly jedoch ergriff meine Partie, obgleich er gewiß noch nie über dieses Thema nachgedacht hatte, und so war der besondere Wohlgeschmack bräunlicher Eier gerettet. Und alle glaubten es.

Weiter zurück liegt die Geschichte mit den Kartoffeln. Es war damals die Erinnerung an die sogenannten schlechten Zeiten noch im Menschengedenken, jedenfalls in meinem. So fand ich nichts dabei, einer geladenen Tischrunde nur Pellkartoffeln und Butter vorzusetzen. Allerdings hatte es mit diesen Genüssen eine Bewandtnis: von einer Wanderfahrt durch Lothringen hatte ich die schönen Erdäpfel und die ländliche Butter mitgebracht. Gegen Ende des Essens hatte ich jedoch das Gefühl, daß die sogenannten schlechten Zeiten vorüber seien und daß die nunmehr verwöhnten Gäste etwas anderes oder noch Zusätzliches erwartet hätten. Ich wurde verlegen, setzte zu Erklärungen an, doch Peter ergriff das Wort wie eine ritterliche Lanze und sagte: »Dieses ist ein poetisches Essen.« Womit er übrigens recht hatte; und alle glaubten es.

So sammelte sich nach und nach um Peter Schermuly ein Kommen, Gehen und Bleiben von Gläubigen. Ein Raum bildete sich; schließlich sogar mit Wänden, also eine Behausung. Doch die begrenzende und steife Eigenart der Wände wurde gleichsam bewegt durch die Bilder, Peters Bilder, die dort hingen und mit am Innenraum wirkten wie es die Sprache tat, der Wein und das Licht. Was ist ein Raum ohne Grenzen und doch ein Raum? Eine Wolke! Man betrat diesen Raum wie man eine Wolke betritt. Man weiß aus dem Gebirge, daß man in Wolken eintreten kann und wieder hinaustreten. Die Menschen verwandelten in Peters Wolkenraüm ihr Wesen, wie Lichter im Nebel ihren Schein elhafter
und größer werden lassen. Man weiß nicht, ob das zur Wolke gehört. Aber eines gehörte bestimmt zu diesem Wolkenraum: das helle Gesicht einer wunderschönen Frau, maßgebend wie ein wandelndes Gestirn. Becher und Speisen wurden lautlos gereicht, ein totaler Aufenthalt war entstanden.

Doch zurück zum Anekdotischen. Peter hatte einen spezifischen Eigensinn entwickelt. Wenn man ihn anrief, um ihn zu locken, um ihm fremde, eindrucksvolle Menschen vorzuführen, kam er nicht. Wie sollte er auch seinen Farbenraum verlassen! Wenn er aber an einem anderen Tag natürlich zufällig eintrat, brachte er irgendwie seinen Raum mit, weder in Form eines geeigneten Gefolges, oder etwa auf solche Weise: er trat höflich auf einen der im Zimmer sitzenden Fremden zu und sagte mit gewinnender Stimme und unwiderstehlicher Anmut: »Auf diesem Platz pflege ich zu sitzen, wenn ich hier bin.« Eilends wurde ihm der Sessel eingeräumt. Das mußte durchaus nicht der bequemste sein, aber er wurde imaginär zum »heiligen Stuhl« und mein Salon zu Peters Wolke.

Niemals bin ich mit Peter spazieren gegangen, aber einmal haben wir zusammen einen Ausflug gemacht in zwei Autos. Es waren von der Partie: Peter und seine schöne Frau, ferner meine Wenigkeit, K.B. und P.H. Wir fuhren nach Baden- Baden. Dort wohnten wir in einem sympathischen Hotel, wo alles reizend und geschmackvoll war, sogar die Aschbecher. Man wurde auch gut behandelt. Wir brauchten auch keine Kurtaxe zu bezahlen, denn wir hatten in Baden-Baden eine wirkliche Besprechung an einem würdigen Ort. Als man uns jedoch am Morgen von dort telefonisch zu sprechen wünschte, antwortete die Rezeption: »Es geht jetzt nicht, die Herrschaften telefonieren noch miteinander.«

So anheimelnd war der Aufenthalt in den verschiedenen Zimmern, daß wir das Telefon dem unmittelbaren Gespräch vorzogen. K.B. las sogar dem einen oder anderen am Telefon Gedichte vor. Aber es wurde doch endlich Zeit, zur Besprechung zu fahren. Alle traten gewaschen und gekämmt aus ihren Tfüren. Wir schritten den Flur entlang und machten uns gegenseitig Komplimente. Die, welche Wand an Wand gewohnt hatten, sprachen vom erfrischenden Plätschergeräusch des nachbarlichen Waschwassers. Peter sagte sogar zu P.H. :»Ich glaubte den Duft wahrzunehmen, als Sie Ihr Eau de Toilette anwandten«, und alle glaubten es.

Jetzt können wir nie wieder zusammen nach Baden-Baden fahren. Denn jenes Hotel ist abgerissen und seine Stelle einer anderen, wahrscheinlich belangloseren Bestimmung zugeführt. Und Peters Behausung in Wiesbaden gibt es auch
nicht mehr. Das heißt, die Wände und der Fußboden und der Plafond sind noch da. Aber die Wolke ist fort. Die ist mit Peter und seiner schönen Frau nach München abgezogen. Dort webt sie jedoch wie eh und je mit luciden Bildern, mit klingenden Stimmen, mit feurigem Wein, mit wanderndem Licht — die alte Zauberwelt. »Die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus« hat Schiller gesagt in genialer Alogik. Aber es ist so gekommen. Die Wände sind hier viel weiter von einander entfernt. Die Wolke kann noch besser fluten. Die neuen Bilder sind größer, müssen größer sein, weil sie weiter weg sind. Die Farben sind auch leuchtender.

Peter Schermuly hat stets viel von Farben verstanden. Inzwischen verstehen die Farben auch ihn. Farben sind nämlich etwas Selbständiges, doch beziehen sie sich auf einander und auch auf den, der mit ihnen umgeht. Wenn Farben in verständiger Weise an den Grund gebunden sind, werden sie frei (so paradox das klingt), sie bewegen sich. Wir können ganz dicht herangehen an eines von Peters Bildern, und dann kommt uns eine Farbe entgegen, die von der Leinwand fort sich auf uns zu bewegt und sagt: »Ich bin Peters Rot«, eine andere: »Ich bin Peters Grün« usw., bis ein ganzer Chor lautlos musiziert. Ich habe geschrieben für gestern und heute, aber nicht für morgen. Doch glauben wir alle, daß noch viel kommen wird und vieles ausgehen wird von Peter und seiner Wolke.