Der Maler und die Wirklichkeit
Bruno Russ
Als der Maler Peter Schermuly im Jahr 1978 nach München zog, da hatte er, ein Fünfziger damals, seinen ganz persönlichen Stil längst gefunden. Äußerst sorgfältige, teils geradezu altmeisterlich gearbeitete Ölbilder von gleichermaßen herangezogener wie wieder entrückter Gegenständlichkeit waren charakteristisch für ihn. Offenkundig stellte das Reale den Drehpunkt seines naiv wissenden, geistvoll hintergründigen Werkes dar. Dem widerspricht keineswegs, daß der junge Schermuly nach dem Krieg in der Jawlensky-Stadt Wiesbaden zuerst ein Schüler Otto Ritschis wurde, des Altmeisters der deutschen Abstrakten, und selbst vierzehn Jahre lang in dieser Weise arbeitete. Unter seinen abstrakten Dämonien aber lauerte allzeit der Gegenstand, der gemäß der barocken, sinnlichen Natur des Künstlers schließlich offen hervorbrach. In seiner betonten, ja überbetonten Darstellung aber verwandelte sich das Wirkliche ins leicht Unwirkliche, wurde das Reale ins Irreale verfremdet. Man erkennt darin einen Abstand, einen Vorbehalt, und dieser Zwischenraum sichert sowohl die künstlerische Freiheit wie die zeitliche Anbindung des scheinbar Zeitlosen. Von diesem Stande aus hat Schermuly in den Münchner Jahren 1979 bis 1999 seine Kunst zu hoher Blüte gebracht, eine Vielzahl hervorragender Werke geschaffen, Stilleben, Akte, Bildnisse. Daß er dabei der Abstraktion, von der er ausgegangen war, nie ganz widersagte, gilt für ausgemacht, ist nachprüfbar. Und ohne nun diesen quasi umgekehrt verlaufenen Kreis gewaltsam schließen zu wollen: es scheint, als nähmen in der jüngsten Zeit die im Geiste entworfenen, von der Wirklichkeit sich lösenden Bilder wieder an Bedeutung zu.
Er selbst, der Maler, geht bei allem ganz schlicht und sachlich vor. Er kündigt Gegenstände an, Gegenstände und Phantasien. Das entspricht zunächst der einfachsten aller Vorstellungen von Malerei: daß der Maler malt, was er sieht, oder was er vor sich hinstellen kann. Auch hinsetzen oder hinlegen übrigens, und die mild provozierende Ironie, wenn es sich etwa um eine nackte Frau handelt, ist sicher einkalkuliert. Die allzu bescheidene Benennung »Gegenstände« legt sowieso den Verdacht nahe, daß nicht nur gemeint sein soll, was an solchen vorhanden ist, sondern auch, was der malerischen Absicht dienlich gemacht werden kann. Was der Maler wiederum vor dem inneren Auge hat, nämlich Gesehenes, Erinnertes, Gedachtes, Traumhaftes, Erfundenes, das gestaltet er in schöpferischer Phantasie. Die beiden Begriffe sind Schermuly seit langem wohlvertraut. Schon die große Wiesbadener Retrospektive vor zehn Jahren trug den Titel »Gegenstände«, und ihr vorausgegangen war eine Aquarell-Serie »Phantasien«. Als erstes also muß man sich mit seiner Wertschätzung von Dauer und Beständigkeit vertraut machen, muß man bei jeder Begegnung mit Wiederbegegnung rechnen.
Wer in seinen Ausstellungen sich umschaut, in den Veröffentlichungen über ihn blättert, der fragt sich plötzlich: habe ich das nicht schon gesehen, diesen Hackklotz? Gewiß doch, so manches Stilleben steht auf ihm, der auch selbst liebevoll behandelt wird, mit seinem matt schimmernden oberen Messingrand, dem gerosteten Eisenreifen in der Mitte, dem zweigeteilten verwitterten Holzdeckel. Ein Erbstück aus dem großväterlichen Hauhalt. Und so praktisch. Unfehlbar schleicht sich freilich auch der Gedanke an den unterschwelligen Widerspruch zwischen einst brutalem Verwendungszweck und heutigem Dienst am Schönen ein. Desgleichen begegnet man in Schermulys Werk immer wieder dem Stuhl mit den gedrechselten Beinen, auch derselben Vase, demselben flammend gezackten Kelim, dem Korb, Tablett, Tisch, Sofa, erst rot dann braun. Im Werk Chardins hat man die Bilder nach den jeweils erscheinenden Gegenständen sogar datieren können. Gut möglich, daß der Maler diese Vertrautheiten braucht, daß sie ihm Sicherheit geben.
Ein ganzes Atelier kommt da zusammen, aus diesen Dingen. Das ist auch ein Hinweis darauf, daß er nicht im Freien, sondern einzig im Atelier malt. Er braucht offenbar die Abgeschlossenheit, den Ort der Stille, der ungestörten Konzentration, des immer gleichen, zumindest berechenbaren Lichts; auch die gewisse Annehmlichkeit vielleicht. Ein weiterer Hinweis für seine Ateliermalerei sind die häufigen Ausschnitte von Leinwänden, Rahmen, Gemälden im Hintergrund, die Spiegel, die Bilder im Bild. Manchmal türmt sich das zu komplizierten Stellagen. Dabei glaubt man freilich nicht an räumliche Zufälle, vielmehr in der Regel an formale Absichten und Notwendigkeiten, oder an inhaltliche Querbezüge, wie etwa bei jenem Halbakt mit Taube oder dem gespiegelten Gesicht einer rückwärtig gesehenen Person.
Szene im Atelier, Gespräch mit dem Maler und seiner Frau. Mehrmals wird der hin und her gehende Blick irritiert: ist denn da noch jemand? Des Rätsels wahre und einfache Lösung heißt »Diri«, das ungefähr lebensgroße Bild eines Mannes, das an der Wand lehnt. Unbestreitbar seine Präsenz, die den Anwesenden förmlich anspringt, auch nachdem er davon weiß. Für Schermuly ist es wichtig, daß auf seinen Bildern die Dargestellten sich selbst und daß andere sie erkennen, daß seine Porträts ähnlich sind, ja oft »wirklicher als das Modell«. Er benennt damit im Grunde den entscheidenden Schritt vom naturalistischen zum realistischen Werk, vom Abbild zum Bild, das dem Abbild die eigene Meinung, die ergründete Sicht, das Wesentliche des Abgebildeten hinzufügt. Und das läßt sich gleichermaßen auf die anderen »gegenständlich« gemalten Gegenstände anwenden.
Und noch eine weitere dieser zufällig unzufälligen Beobachtungen. Öfter auch begegnet man Ausschnitten von Schermulys Bildern. Das Verblüffende dabei ist, daß sie in ihrer Wirkung den vollständigen Werken nicht nachstehen, ja diese womöglich noch übertreffen. Die verständlichste Erklärung dafür hieße, daß jeder Ausschnitt eine Sache an den Betrachter heranrückt, das Bild somit an Nähe, und zusätzlich an Originalität, an Aggressivität gewinnt. Unsere fotogeschulten Augen scheinen das heute nachgerade zu verlangen. Schermuly schneidet seine Darstellungen oft auch selbst ab und malt eigens solche Abschnitte, Füße zum Beispiel. Der attraktive Ausschnitt eines Ganzen könnte bei ihm auch auf ein Defizit, auf das Fehlen einer ausgeführten, einer zeichnerisch zeichenhaften Durchgestaltung hinweisen; damit gar nachgeholte Komposition bedeuten. Er selbst betont ja auch gerne die geringere
Wichtigkeit von Komposition, welche die schlagartige, direkte Aufnahme einer Wirklichkeit nur störe. Das ist von ihm aber sicher übertrieben, ist allenfalls die halbe Wahrheit. Denn keineswegs setzt er nur immer Objekte brav in die Mitte - wie einer seiner Kommentatoren anmerkt - sondern kalkuliert sehr wohl Positionen, Überschneidungen, Überlagerungen, Kontraste ganz genau, zumal in den Hintergründen; auch betreibt er ein reges Beziehungsspiel zwischen dem zentralen Gegenstand und einem absichtsvoll hinzugesetzten kleinen Pendant, einer Kugel etwa, einem Ei oder einer Muschel; zumindest wird da der Blick vom Nebensächlichen angezogen und weitergereicht. Doch zurück zu den Ausschnitten: noch in ihrer radikalsten Form liefern sie erstaunliche, vollgültige Stilleben. Und in der Vergrößerung haben sie den positiven Effekt, daß sie die malerische Qualität aller einzelnen Partien beweisen und zur Geltung bringen. Denn jede Stelle im Bild muß leben.
Höchste Bewunderung hat ihm schon immer sein geradezu erotischer Umgang mit Oberflächen eingebracht. Und insbesondere mit der geheimnisvollsten von allen, der menschlichen Haut. Sensibel für das Sensible. Auf seinen Akten blendet, ja betört sie den Betrachter, schmeichelt ihm, wandelt sich leise unter dem Lichteinfall, wölbt sich, faltet sich, rötet sich, schimmert, läßt Geäder zart durchscheinen, verrät Jugend und Alter, verleiht den Gliedmaßen ihr Volumen, macht die Schwere eines Körpers fühlbar, kurz: lebt, und gibt im Außen selbst eine Ahnung von der Beschaffenheit des Inneren. Alle Lust und Mühe ist darauf verwendet. Um das Inkarnat zu treffen, wird eine Aktfigur im Anfang des Malprozesses braun umrandet, damit nicht eine helle Leinwand zu falschem Farbton verleitet; einige unvollendete Bilder bezeugen das. Denn Farbe erscheint immer in Abhängigkeit von ihrer Umgebung; sogar bei einem Druck stört ihn ein harter weißer Rand.
In gleicher Weise aber fesselt den Maler die Oberfläche eines Steins, so gut wie die Mauer eines Schlosses, ebenso ein Glas in seiner Durchsichtigkeit, die Brechung von Glas und Wasserrand, das sich sammelnde Licht am Boden einer Vase; ebenso die Veränderung einer verblühenden Blume, mit ihren kaum merklichen Abstufungen. Er sieht genau hin. Roter Teint ist etwas ganz anderes als aufgelegtes Rouge. Im Erfassen wie im Wiedergeben - immer stellt der Maler hohe Ansprüche an sich selbst. Bei frappierendem Können ist er nicht leicht zufrieden, auch durchaus bereit, ein Bild nochmal vorzunehmen, zu verbessern. Auffallend häufig finden sich bei den Angaben zur Entstehungszeit doppelte Jahreszahlen, die sogar recht weit auseinander liegen können. Unwahrscheinlich ist es freilich, daß hierbei maltechnische Feinheiten eine große Rolle spielen; eher wird man an inhaltliche Gründe denken, an die Veränderung einer Person, an den Wandel einer gestaltenden Sicht.
Wie auch immer: bei einer derartigen Konzentration auf die Malweise, den malerischen Prozeß taucht fast notwendig die Frage nach der Gewichtigkeit von Aufgabe und Durchführung auf. Ob also der Gegenstand eigentlich nur ein Anlaß ist zu schöpferischem Umgang mit der Farbe, gar nur ein Vorwand für das Ausleben malerischer Bravour? Die Farbe selbst, und der Umgang mit ihr, als das Thema.
Darüber ließe sich wohl ein Glaubenskrieg entfesseln. Wobei freilich zu bedenken bliebe, daß die abstrakte Malerei nicht nur der Form, sondern auch der Farbe alle Möglichkeit zu eigenem, eigenberechtigtem Dasein geboten hatte, der Maler sich dennoch eines Tages den Gegenständen und ihrer realistischen Darstellung zuwandte. Er wird schon mit ihnen und durch sie etwas haben bewirken wollen. Man sollte also von einer Balance ausgehen. Denn unstreitig ist wiederum, daß Reiz und Wirkung der Bilder Schermulys untrennbar mit dieser hohen, selbstwertigen malerischen Kultur verbunden sind.
Das erste Münchner Jahrzehnt markiert einen Höhepunkt von Schermulys Schaffen. Es entstanden unter anderem seine großen, herausfordernd realistischen Akte, die wie ein unübersehbares Zeichen in die Kunst unserer Zeit gesetzt sind. Das jetzt beendete zweite Jahrzehnt zeigt nun zwar dasselbe Spektrum der bildlichen Themen, aber die Akzente sind leicht verschoben. Die Darstellung der Gegenstände ist breiter gestreut, wird in ihren Absichten vielfältiger. In diesen 90er Jahren gibt es noch immer die Aktfigur, aber nicht mit gleicher Dominanz. Bei dem Rückenakt mit roten Haar - »In Erwartung der Erscheinung« - richtet sich die ganze Aufmerksamkeit gemäß dem Titel auch sogleich auf den verhüllten mythischen Tierkopf. Bei dem wichtigen Bildnis »Halbfigur« werden Gesicht und Oberkörper wie bisher brillant mit Licht modelliert, aber die Helligkeit insgesamt scheint zurückgenommen.
Breiten Raum erhalten nach wie vor die Stilleben. Hier prangen beispielsweise die 39 Nüsse in alter scharfer Deutlichkeit, aber auf dem Pflaumenbild mit Holzgestalten wirken die Früchte ganz natürlich und der bekannte Kelim ist fast abgeblaßt. Die Holzgestalten erscheinen wie der unerwartete Einbruch einer ganz anderen Welt; einer Welt der Phantasie eben. Die Neigung zur Überhöhung hat abgenommen, wie auch an den matteren Kürbissen zu bemerken. Bei den glänzenden Äpfeln und Birnen im Korb aber geht es garnicht um die Früchte, sondern um eine Assoziation von Gitter und Gefangenschaft; und bei den roten Tulpen in der Glasvase handelt es sich weniger um Blumen, als um ein Signal, um ein bewegtes Farbwunder. Allerdings ist festzuhalten, daß solche Ausrichtungen selten in Reinkultur vorkommen; daß Gemeinsamkeiten die zeitlichen Begrenzungen durchstoßen, daß unterschiedliche Lösungen nebeneinander stehen können. Besondere Aufmerksamkeit des Künstlers gilt dem aufregend stillen Ereignis des Welkens und Verwelkens; was sich schon früher mit mürbem Bouquet und trockenen Blumen ankündigte und jetzt bei den Kastanien auf dem Zinnteller in feinsten Brauntönen beobachtet wird. Das ist nicht nur ein raffiniertes Spiel mit minimalen Abweichungen, sondern auch die Bestätigung einer Entwicklung zu mehr verhaltener, wenn nicht dunkler Stimmung insgesamt, wie man sie dem Schaffen der beginnenden späten Jahre wohl gerne zuschreibt. Freilich muß sich auch hier wieder das Sehen hüten, insgeheim dem Wissen zu folgen.
Es kommen aber auch neue Themen herauf: Steine und Phantasien. Auf dem »Platz der Steine« geht es um hundertfältige Differenzierung nach Gestalt und Aussehen. Ganz eigentlich handelt es sich um eine Landschaft, die es bei Schermuly doch selten gibt. Aber man zweifelt, wie bei dem früheren »Waldinneren«, ob es eine Landschaft aus der Natur ist. Diese Schlucht scheint eher auf dem Umweg über das Studium gesammelter Steine entstanden. Und die ganze Komposition wirkt schließlich wie eine Projektion seelischer Befindlichkeit, mit dem tief verschatteten Hintergrund, ohne Luft, ohne viel Himmel, dem geheimnisvoll aufsteigenden weißgrauen Dampf.
An sich ist der Gegenstand Stein ein Inbegriff für unbelebte Natur, ein Zeugnis reg- und wesenloser Dauerhaftigkeit. Doch es mag einen Künstler gerade darum reizen, einen solchen zum Sprechen zu bringen. Also sind andere Steine einzelne Studien aus der Nähe, wobei das Wort Studie eher eine Untertreibung ist; Steine jedenfalls, an denen der Maler seinen Blick und sein Gespür für Flächen und Oberflächen abermals bewährt, wenngleich sie nicht so verführerisch sind wie lebende Haut. Bei einem Doppelstein, dessen Vorder- und Rückseite gezeigt werden, sieht man die Gestaltung bis in die abgesplitterten einzelnen Schichten vordringen, geradezu den Entstehungsprozeß nachvollziehen. In einem anderen Fall ist ein kleiner brauner Stein vor einem größeren weißen aufgerichtet; bei stark verschobenen Proportionen sieht dieser wie ein Kalkgebirge aus, so weit hat sich das Bild von der Vorlage gelöst, strebt eigener Bedeutung zu. Noch einen Schritt weiter geht Schermuly bei der »Weißen Muschel«, einem rund abgeschliffenen, durch einen Sprung unterbrochenen Gebilde, das in seiner schimmernden Glätte, seiner weißlichen Abstrahlung bis ins Surrealistische weist.
Von der anderen Seite her leisten die »Phantasien« durchaus ähnliches. Das karibische Bild »Drei Fische« zeigt rund um einen Fischkopf mit Auge das Anwachsen schwer definierbarer grünlicher Körper, mit einer darüber sich ringelnden Schlange, hauptsächlich aber ein korallenartiges Gewuchere, zu dem sich Farbe sozusagen selbsttätig auswächst. Über einem nüchtern geradlinigen, farblich einsilbigen Schiffsdeck erhebt sich diese dunkel gefährliche Pracht. Auf der Gegenseite in kühler Berechnung das »Spielzimmer des Vulcanus«, mit seinen eisernen Scharnieren und hölzernen Klötzen; ein magisch-sachliches, real-irreales Stilleben; wie der Blick in einen Guckkasten hinein, auf eine Bühne und ihre künstliche Szenerie. Mit einem Wort: das Ziel dieser späten Bilder ist nicht ein irgendwie gearteter Gegenstand und die Aussage durch ihn. Je nach Inhalt entwickeln sie vielmehr eigene Gesetze und folgen ihnen. Sie entstehen letztlich im Kopf, als gedankliche Schöpfungen, Phantasien eben. In ihren Formfindungen neigen sie auch wieder stärker der nie ganz verlorenen Abstraktion zu. Jedenfalls sprechen Informel-Passagen ebenso dafür wie eine streng rationale Konstruktion.
Mag sein, daß diese Entwicklungen den Maler und den Zeitgeist, was immer man darunter zu verstehen hat, einander wieder näherbringen. Denn übers Ganze besehen hat er oft genug die Frage nach der Gegenwärtigkeit seiner Kunst verspüren müssen. Soviel Böses in der Welt - und er malt Blumen. Soviel gesellschaftliche Probleme - und er sinnt auf das Schöne. Soviel aufregend neue, kritische Ausdrucksmöglichkeiten - und er wandelt für den oberflächlichen Betrachter auf traditionellen Spuren. Ein sozusagen ungehorsamer Künstler. So würden es die bestellten Auguren formulieren, die über dem wachen, was man »den Geist der Zeiten« heißt, und von dem Goethe bereits - im Faust - sagt: »Das ist im Grund der Herren eigener Geist«. Daß er tief in der Tradition steht, von der er sehr viel weiß, braucht man nicht abzuwehren. Das beginnt damit, daß er auf dem beharrt, was zu früheren Zeiten selbstverständlich gewesen wäre, mittlerweile aber Mut abverlangt: ein Maler zu sein und nichts als ein Maler. Das zeigt sich in seinen Sujets: Autos, Flugzeuge, elektrische Zahnbürsten erscheinen in seinen Bildern bis jetzt nicht. Wenn er schließlich die Alten vergleichend heranzieht, bei den Venezianern angefangen, dann geht es ihm immer um deren gelungene Lösungen, um die Vorbildlichkeit ihres Strebens, um ihre nicht nachlassende Anstrengung. Dies ist ihm Ansporn, es ihnen gleichzutun. Von daher fühlt er sich bestätigt in seinem Bemühen um die Stimmigkeit eines Details, in seinem Beharren auf der vollständigen Durchformung eines ganzen Bildes. So etwa, um nur ein einziges Beispiel herauszugreifen, wenn er sich an der Vollkommenheit, der innigen Entrückung des flötespielenden Jungen in einer Bauernfamilie des LeNain begeistert. Zur malerischen Malerei der Franzosen fühlt er sich ohnedies hingezogen, sieht darin auch eine Übereinstimmung mit der Herkunft seiner Familie aus der Westschweiz und Lothringen. Ihm widerstrebt das dramatische Aufsehen, die ausgreifende Geste. Ein gelungener Übergang in einer tonmalerischen Phase, ein richtig gesetztes Licht auf einer Stirn ist ihm der höhere Triumph. So übt er ruhevolle Zurückhaltung in seinem Schaffen. Doch gewiß genießt er das schöpferische Vergnügen, aus dem Anblicken eines Gegenstands ein Kunstwerk entstehen zu lassen. Darum kennt er auch seinen Rang, wie der lapidare Namenszug seiner Signatur erweist.
Daß die Äpfel, die er heute malt, nicht die gemalten Äpfel von vor dreihundert Jahren sind, versteht sich von selbst. Oft genug zeigen sie auch, wie eingangs bemerkt, in der Überbetonung des Wirklichen jene Spur Entwirklichung, welche eine zusätzliche, distanziert reflektierende Sicht verrät. Schermuly ist gewiß nicht der einzige realistische Maler der Gegenwart. Aber von seinem eigenen, ausdrücklichen Weg, dieser Hingabe zugleich und Verweigerung, hat er sich nie abbringen lassen. Er regt vielleicht gerade durch sein Sich-enthalten, durch seine fast demonstrative Gegenposition zum Nachdenken über die Begründungen und Möglichkeiten der Bildenden Kunst in unserer Zeit an. Und über eine Sache sollte man jedenfalls nicht hinwegsehen: wie im besten Sinne welthaltig seine Malerei ist. Die Dinge kommen zu ihrem vollen Recht. Wobei die Beachtung, die Anerkennung des scheinbar Geringen dies doppelt belegt. In gleicher Weise forscht der Maler den Menschen nach. Von beiden Seiten her weht, durchaus aufs Heute zu beziehen, ein zutiefst humaner Geist durch seine Kunst.
Bruno Russ
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